Chancen und Risiken

Künstliche Intelligenz im Gesundheits­wesen

Eine Frau hält das Stetoskop, dum herum digitale Anwendungen Eine Frau hält das Stetoskop, dum herum digitale Anwendungen
Datum:
20. November 2024
Lesezeit:
6 min

Arbeiten und leben ohne die Unterstützung von Künstlicher Intelligenz (KI)? Heute schon vielfach undenkbar und die Entwicklung schreitet rasend schnell voran. Über Chancen und Risiken dieser hochmodernen Technologie — auch im Gesundheitswesen — spricht Prof. Dr. Stefan Heinemann, KI-Experte und Professor für Wirtschaftsethik an der FOM Hochschule in Essen.

Herr Prof. Dr. Heinemann, wo wird Künstliche Intelligenz bereits angewendet?

Praktisch überall. Ich denke an die Produktionsoptimierung in der Industrie, zum Beispiel mit vorausschauenden Wartungsintervallen, an die Automobilindustrie mit dem autonomen Fahren, gänzlich neue Marketingstrategien mit einer superpräzisen Zielgruppenanalyse und einer sehr individualisierten Personalisierung von Werbung und Chatbots für den Kundenservice. Immens bedeutsam ist KI bereits in den Bereichen Verkehr und Logistik mit Routenoptimierung, Nachfrageprognosen, CO2-Steuerung und natürlich für die Medienbranche mit neuen Empfehlungssystemen, automatisiertem Erstellen von Inhalten und so weiter. Nicht vergessen sollten wir den öffentlichen Sektor mit einer smarten Verwaltungsoptimierung, digitalen Bürgerdiensten und vielem mehr. Ich könnte Ihnen noch viele Beispiele nennen.

Und wo revolutioniert KI die Medizin und das Gesundheitswesen?

An zahlreichen Stellen – und das sehr erfolgreich! Beispielsweise in der bildgebenden Diagnostik, in der KI-Systeme Radiolog*innen bei der Analyse von MRT-, CT- und Röntgenaufnahmen unterstützen. Ich sage bewusst unterstützen, denn die endgültige Diagnose und Therapieentscheidung muss beim Arzt oder der Ärztin liegen. KI macht die Medizin präziser und auch menschlicher.

Warum ist das so?

Weil die nicht patientennahen Bürokratiepflichten von KI übernommen werden können und so den Ärzt*innen mehr Zeit für das Wesentliche bleiben wird, nämlich dem Dienst am Menschen. Ich bin davon überzeugt, dass Medizin besser werden kann,mit weniger Fehlern und einer genaueren, auf die einzelne Person abgestimmten datengestützten Dia-gnostik und Therapie. In der Patientenüberwachung analysieren beispielsweise KI-Systeme kontinuier-lich Vitaldaten von Patient*innen auf Intensivstatio-nen. So kann beispielsweise Sepsis via KI frühzeiti-ger erkannt und behandelt werden. Auch in der Krebsfrüherkennung, insbesondere bei Brust- und Lungenkrebs, zeigt KI vielversprechende Ergeb-nisse, indem sie präzise subtile Anzeichen in Bildge-bungsverfahren erkennt.

Das heißt, gerade in der medizinischen Versorgung sehen Sie besondere Chancen von KI-Systemen?

Auf jeden Fall! Die Integration von KI in die medizinische Diagnostik, später auch verstärkt in die Therapie und Prävention, markiert einen Wendepunkt in der Gesundheitsversorgung. Diese zeichnet sich aus durch personalisierte Prävention, präzisere und schnellere Diagnosen, individualisierte Therapieansätze, Entlastung des medizinischen Fachpersonals, beschleunigte Arzneimittelentwicklung und eine optimierte Patientenüberwachung. Weitere Vorteile umfassen die Effizienzsteigerung in der Verwaltung, verbesserte Prognosen von Krankheitsverläufen, Unterstützung klinischer Entscheidungsprozesse und die erweiterte Zugänglichkeit medizinischer Versorgung, etwa durch Telemedizin. Darin liegen echte Chancen. Diese Entwicklungen versprechen nicht nur eine Verbesserung der medizinischen Versorgung, sondern auch eine Transformation des gesamten Gesundheitssystems selbst, hin zu mehr Effizienz, Genauigkeit und Patientenorientierung.

Bei aller Begeisterung und allen Chancen: Wo liegen die Gefahren und Risiken?

Bei allem Fortschritt muss ganz klar sein: Wir Menschen stehen im Mittelpunkt, und das soll auch so bleiben. Menschen treffen Entscheidungen und tragen die Verantwortung – auch für die Entwicklung und den Einsatz von KI in der Medizin und im Gesundheitswesen. Es geht nicht darum, KI als Instrument zu nutzen – nicht nur über und von, sondern mit der KI zu lernen; nicht neben oder gar unter, sondern über der KI zu arbeiten. 

Bei Entwicklung und Einsatz von KI müssen Grundrechtseingriffe vermieden werden. Das schreibt der AI Act der EU zu Recht gesetzlich fest. Es handelt sich hier um die erste umfassende, weltweite Verordnung über KI durch eine wichtige Regulierungsbehörde. Es darf keine Diskriminierung geben. Transparenz, Datensicherheit, Datenschutz und Privatheit sind in den Fokus zu nehmen, ohne hysterisch zu werden. Ein „Zuviel“ an KI ist vorstellbar – es kommt also auf den klugen Einsatz smarter digitaler Hochtechnologien an. Zuerst Ethik, dann KI. Dann aber wirklich KI – der Verzicht auf Chancen ohne gute Gründe ist selber unmoralisch.

Besteht die reelle Gefahr, dass die KI uns entgleitet?

Aktuell sehe ich das technologisch nicht. „Aktuell“ bedeutet aber wirklich heute, nicht in ein paar Jahren. Der Mensch muss alleiniger moralischer Akteur bleiben. Die Gefahr, dass wir uns selbst entgleiten, ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn das aber passiert, wird auch die KI nicht mehr beherrschbar sein.

Und nun ganz konkret: In welchen Bereichen kann die KI die Arbeit und Aufgaben der Krankenkassen verbessern?

Die Rolle der gesetzlichen Krankenversicherung wird sich in Zukunft stark verändern, was ich für wichtig halte. Abrechnung plus Service wird nicht das Modell sein. Es wird ein System geben, das die Sicherheit und den verantwortungsvollen Einsatz von KI und anderen Technologien gewährleistet, um die Risiken zu minimieren und den Versicherten gleichzeitig neue Chancen zu bieten. Die Palette reicht von der Betrugserkennung (Identifikation von Abrechnungsbetrug) über den Kundenservice (Chatbots und virtuelle Assistent*innen für Versicherte), Prozessautomatisierung (Beschleunigung von Verwaltungsaufgaben), Präventionsmaßnahmen (personalisierte Gesundheitsempfehlungen), Leistungsmanagement (Optimierung der Ressourcen), Vorhersagemodelle (Prognosen für Gesundheitstrends und Kosten) bis hin zu personalisierten Tarifen (maßgeschneiderte Versicherungsangebote). Am Ende geht es darum, trotz hoher Qualität und Sicherheit die Beiträge stabil und bezahlbar halten zu können.

Wird die KI Menschen und damit Arbeitsplätze im Gesundheitssystem ersetzen?

KI wird wahrscheinlich zunächst verstärkt einige Aufgaben automatisieren, also eher Arbeitsplätze verändern als komplett ersetzen. Damit können sich Vorteile verbinden für Patientinnen und Patienten, aber auch für die Beschäftigten. Sie werden von Routineaufgaben entlastet. Die Fokussierung wird sich wieder auf die menschliche Interaktion und komplexe Fälle richten, auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze im KI- und Datenanalysebereich oder die Verbesserung der Arbeitsqualität durch Unterstützungssysteme. Aber auch der Verlust einiger traditioneller Arbeitsplätze, besonders in der Verwaltung, ist denkbar. Notwendig ist deshalb die kontinuierliche Weiterbildung, um diesen Effekt zu minimieren. Es kommt wirklich darauf an, jetzt zu handeln und die Unternehmen und Organisationen fit zu machen für KI.

Auf was dürfen sich die Versicherten zukünftig einstellen?

Auf digitale, smarte und bessere Serviceangebote. Dazu muss aber die Finanzierung der GKV angepasst werden, denn Digitalisierung ist zunächst ein Investment. Es wird unter anderem mehr digitale Interaktionen mit der Krankenkasse, personalisierte Gesundheitsempfehlungen und Präventionsangebote geben. Außerdem eine schnellere Bearbeitung von Anträgen und Anfragen, neue, KI-gestützte Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, potenzielle Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten und mögliche Änderungen in der Tarifstruktur basierend auf individuellem Gesundheitsverhalten. Höhere Kosten soll es nicht geben – mittelfristig wird es effizienter werden und auch werden müssen.

Unser Interviewpartner: Prof. Dr. Stefan Heinemann

Prof. Dr. Stefan Heinemann ist Professor für Wirtschaftsethik an der FOM Hochschule für Ökonomie & Management in Essen und gewähltes Mitglied der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Zudem ist er Mitglied der „Arbeitsgruppe KI in der Inneren Medizin“ in der Kommission „Digitale Transformation der Inneren Medizin“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM) sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats „Digitale Transformation“ der AOK Nordost. Er hat an der Entwicklung einer digitalen Ethik bei der BARMER mitgewirkt.

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